Spätestens seit dem Anschlag in Solingen ist der Zusammenhang zwischen Migration, Flucht und Terrorismus eines der kontroversesten Themen im politischen Diskurs. Ich habe mich dieses Wochenende daran gemacht, öffentlich zugängliche Daten und Berichte über dschihadistische Anschläge und Anschlagsplanungen seit 2016 zusammenzutragen.
Daraus entsteht folgendes, auf den ersten Blick widersprüchliches Bild:
1. Nur ein verschwindend kleiner Anteil der seit 2016 in Deutschland angekommenen Flüchtlinge und Asylbewerber hat sich radikalisiert. Von den mehr als zwei Millionen Menschen, die seit 2016 in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, wurden nur 40 zu dschihadistischen Attentätern oder Anschlagsplanern. Das sind gerade mal 0,002 Prozent.
2. Gleichzeitig gilt: Der Anteil von Flüchtlingen und Asylbewerbern an den seit 2016 festgenommenen Attentätern und Anschlagsplanern ist sehr hoch. Nur 45 in Deutschland wohnhafte Personen haben in den letzten acht Jahren versucht, einen dschihadistischen Anschlag durchzuführen; doch knapp 90 Prozent davon waren zum Zeitpunkt der Tat oder Anschlagsplanung Flüchtlinge oder Asylbewerber.
Bevor ich mehr dazu sage, was diese Befunde bedeuten, hier zuerst einige Worte zu den Zahlen:
Der Erfassungszeitraum ist 1. Januar 2016 bis 21. September 2024.
Alle Daten stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen (z.B. Generalbundesanwalt, Medienberichte, Chronologien islamistischen Terrors, etc.) sowie meiner eigenen Forschungsarbeit (bspw. für mein neues Buch Die Rückkehr des Terrors).
Neben den durchgeführten Anschlägen wurden nur solche Vorfälle berücksichtigt, bei denen die Berichterstattung darauf schließen lässt, dass tatsächlich eine Anschlagsplanung stattgefunden hat, also etwa Ziele ausgespäht oder Waffen beschafft wurden.
Während des Erfassungszeitraums trugen sich 23 dschihadistisch motivierte Anschlagsplanungen zu. 13 hiervon resultierten in durchgeführten Anschlägen.
Mit diesen Anschlagsplanungen bzw. Anschlägen lassen sich insgesamt 45 Personen in Zusammenhang bringen. Vierzig hiervon – also 89 Prozent – waren zum Zeitpunkt der Anschlagsplanung Asylbewerber oder Flüchtlinge.
Neunzehn der 23 Anschlagsplanungen bzw. Anschläge – also 83 Prozent – wurden komplett von Personen durchgeführt, die zum Zeitpunkt der Anschlagsplanung Asylbewerber oder Flüchtlinge waren.
Von den 13 durchgeführten Anschlägen gehen zehn – also 77 Prozent – auf das Konto von Personen, die zum Zeitpunkt des Anschlags Asylbewerber oder Flüchtlinge waren.
In nur vier Fällen (Ansbach, 07/16; NRW 07/23; NRW et al, 12/23; Gera 3/24) gibt es Hinweise darauf, dass die mutmaßlichen Attentäter bereits vor der Einreise nach Deutschland radikalisiert waren. Das heißt: In den restlichen 19 Fällen – also knapp 83 Prozent – haben sich die Attentäter und Anschlagsplaner erst in Deutschland radikalisiert.
Was bedeuten diese Befunde?
Wie oben bereits erwähnt, kann man diese Zahlen auf unterschiedliche Weise lesen. Zu sagen, dass „alle Flüchtlinge“ potenzielle Terroristen seien, ist ganz offensichtlich falsch. Genauso falsch liegt jedoch, wer behauptet, in diesem Bereich gäbe es keine Probleme.
Wer sich die Mühe macht, die Zahlen differenziert zu betrachten, erkennt Folgendes:
Deutschland hat ein kleineres Dschihadismus-Problem als Länder wie Frankreich oder Großbritannien, die weitaus weniger Flüchtlinge aufgenommen haben. In Frankreich etwa wäre die Liste der versuchten und durchgeführten Anschläge mindestens fünf Mal so lang – und die allermeisten Tatverdächtigen wären gebürtige Franzosen.
Die große Mehrheit der Muslime in Deutschland sind für Dschihadismus nicht ansprechbar. So haben knapp die Hälfte aller Muslime in Deutschland türkische Wurzeln, kommen in Terrorermittlungen jedoch fast überhaupt nicht vor. „Der Islam“ als Erklärung für dschihadistischen Terrorismus greift deshalb zu kurz.
Die Bereiche Flucht und Asyl sind jedoch ganz offensichtlich ein Hotspot. Mehr als sonstwo gibt es hier „Vulnerabilitäten“, die die Ansprechbarkeit für Extremismus potenziell erhöhen: (a) die Herkunft aus Kriegs- und Konfliktgebieten, in denen dschihadistische Gruppen aktiv sind; (b) eine (oftmals traumatisierende) Fluchterfahrung; (c) negative Erfahrungen und Enttäuschungen während langjähriger Asylverfahren; (d) Zurückweisung und mangelnde Durchsetzung von Abschiebungen.
Was folgt daraus?
Erstens: Es braucht eine größere Anstrengung im Bereich Flucht und Asyl. Prävention, Frühwarnsysteme sowie Beobachtung und Repression müssen sich viel stärker auf diesen Bereich konzentrieren.
Zweitens: Asylverfahren müssen gestrafft und geordnet werden. Die Tatsache, dass junge Männer jahrelang ohne Beschäftigung und klare Perspektive in Unterkünften sitzen, ist ein potenzieller Radikalisierungsfaktor.
Und drittens: Politik und Gesellschaft müssen eine Entscheidung darüber treffen, wie es weitergehen soll. Wenn Deutschland unverändert hohe Zahlen von Asylbewerbern aufnehmen möchte, muss die Integrationsanstrengung dramatisch erhöht werden. Wenn nicht, dann muss ihre Zahl reduziert werden. Der Status Quo ist jedenfalls nicht haltbar.
Mehr zu den aktuellsten Entwicklungen im Bereich dschihadistischer Terrorismus gibt es auch in meinem neuen Buch Die Rückkehr des Terrors, was letzte Woche bei Rowohlt Berlin erschienen ist:
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