„Dass genau dieselbe Taktik noch einmal funktioniert, hätte nicht geschehen dürfen“
Mein großes Tagesspiegel-Interview zum Anschlag in Magdeburg
Dem Berliner Tagesspiegel — für den ich auch eine Kolumne schreibe — habe ich heute Vormittag ein ausführliches Interview zum schrecklichen Anschlag in Magdeburg gegeben. Viele der Details sind noch unklar, und besonders die Motivation des Täters scheint mit sehr ungewöhnlich. Klar ist nur, dass dieser Anschlag nicht hätte passieren dürfen. Und dass wir in Deutschland eine viel konsequentere Kultur der Aufarbeitung solcher Vorfälle brauchen.
Herr Neumann, der Anschlag in Magdeburg weckt Erinnerungen an 2016, als der Islamist Anis Amri auf einem Berliner Weihnachtsmarkt zahlreiche Menschen tötete und verletzte. Wie sehr ähneln sich die Taten?
Von der Taktik und Methode her sind sie identisch. Ein klassischer Fahrzeuganschlag, wie wir ihn von Dschihadisten bereits mehrfach gesehen haben und wie er von der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) propagiert wird. Weihnachtsmärkte sind ein beliebtes Ziel von Dschihadisten. Einerseits, weil dort viele Menschen sind. Andererseits, weil ein symbolischer Bezug zum Christentum besteht und das in das Narrativ des globalen Religionskriegs passt.
Nun war der Täter von Magdeburg aber kein Dschihadist, sondern hat sich vom Islam abgewendet.
Genau. Und das ist der Punkt, in dem sich die Anschläge am Berliner Breitscheidplatz 2016 und in Magdeburg an diesem Freitag deutlich unterscheiden. Nach allem, was wir bislang über den Fahrer des Wagens Taleb Jawad Al Abdulmohsen wissen, war er kein Islamist. Er wollte mit seiner Tat nicht den IS unterstützen. Im Gegenteil. Er war ein Islamhasser, obwohl er selbst als Moslem geboren und aufgewachsen ist.
In seinen Posts in den Sozialen Medien hat Al Abdulmohsen mit der AfD sympathisiert. Es hat schon etwas Bizarres, dass jemand, der sich vom Islam abgewendet hat, eine islamistische Tat kopiert. Welche Motive könnten ihn dazu getrieben haben?
Ich sehe zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass der Täter seine eigene bizarre Ideologie entwickelt hat. Er schreibt seit sechs, sieben Jahren, dass er sich als Atheist begreift, als Ex-Muslim. In seinen Posts hat er Deutschland dafür kritisiert, dass angeblich so vielen Islamisten Asyl gewährt wird. Und er hat Deutschland vorgeworfen, eine Strategie der Islamisierung Europas zu verfolgen. Auch hat er zum Beispiel mehrmals den österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner angetweetet. Es könnte also sein, dass Al Abdulmohsen mit seiner Tat eine Art umgekehrter Psychologie verfolgen wollte, um die Menschen dazu zu bringen, sich gegen Muslime zu wenden und für Parteien wie die AfD zu stimmen.
Und die zweite Möglichkeit?
Er war Psychiater und hat als solcher auch praktiziert. Ich halte es jedoch für durchaus vorstellbar, dass er selbst zumindest ansatzweise geistig verwirrt war, also an einer psychischen Erkrankung litt. Ich kann das fachlich nicht beurteilen, weil ich kein Psychiater bin. Aber wenn lese, was er in den vergangenen Jahren in den Sozialen Medien geschrieben hat, ähnelt das Fällen, in den die Täter ebenfalls psychisch erkrankt waren.
Ein Experte hat gestern Abend gegenüber dem Tagesspiegel gesagt, dass der IS gezielt Personen anspricht, die als psychisch labil gelten.
Es wird unter Terrorexperten diskutiert, ob der IS das tatsächlich gezielt macht oder ob die Botschaften des IS bei psychisch Kranken einfach leichter Resonanz finden.
Kann ein Einzeltäter ohne jede Unterstützung einen solchen Anschlag begehen?
Ja. Das ist auch sehr häufig so. Der IS propagiert diese Methode auch deshalb, weil man dafür eben niemand anderen braucht. Allerdings wird bei Anschlägen oft zunächst von mehreren Attentätern berichtet. Aber dann stellt sich heraus, dass es tatsächlich ein Einzeltäter war.
Wie entsteht dieser erste Eindruck?
Am Anfang kommen viele Informationen aus unterschiedlichen Kanälen, die man erst auseinandersortieren muss. Und viele Leute können sich schlicht nicht vorstellen, dass eine einzelne Person zu so etwas fähig ist. Ich weiß nicht, ob die Polizei in Magdeburg schon etwas Abschließendes zur Tat gesagt hat, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Al Abdulmohsen ein Einzeltäter war.
Al Abdulmohsen hat in seinen Posts in den Sozialen Medien Drohungen ausgesprochen. Warum wurde das nicht verfolgt?
Studien zeigen, dass Einzeltäter in den meisten Fällen ihre Tatabsicht vorher mitteilen. Zum Beispiel posten sie es im Internet oder sie teilen es Freunden mit. Und oft wird es nicht ernst genommen. In einem Tweet vor ein paar Tagen hat Al Abdulmohsen Deutschland quasi den Krieg erklärt. Das war natürlich ein Warnsignal.
Woran scheitert es, dass solche Drohungen von den Sicherheitsbehörden nicht verfolgt werden?
Früher bestand das Problem für die Arbeit der Polizei und der Nachrichtendienste darin, dass sie nicht genug Informationen hatten. Heute ist es genau umgekehrt, sie haben viel zu viele Informationen. In den Sozialen Medien gibt es jeden Tag tausende solcher Signale. Es ist sehr schwer geworden zu unterscheiden, welche dieser Drohungen wirklich ernst gemeint sind. Was genau ist das Muster, nach dem Drohungen wahrgemacht werden? Das haben wir noch nicht durchdrungen.
Bei den Behörden gehen sehr viele Hinweise ein. Selbst wenn man das Polizeipersonal verdoppeln würde – was ja gar nicht möglich wäre –, würde das nicht ausreichen, um jeden dieser Hinweise zu überprüfen. Vielleicht ist das etwas, wobei die Künstliche Intelligenz künftig unterstützen kann.
Ist zu befürchten, dass diese Tat jetzt Nachahmer findet?
Ja, das ist leider immer eine Gefahr. Und diese Nachahmer könnten dann tatsächlich auch Islamisten sein. Natürlich beobachten Terroristen über die Medien genau, was funktioniert. Der erste große Fahrzeuganschlag fand im Sommer 2016 in Nizza statt. Bis dahin hatte es kaum solche Anschläge gegeben. Und binnen sechs Monaten kam es dann zu etlichen Nachahmertaten, unter anderem am Berliner Breitscheidplatz. Die mediale Verbreitung dieser Anschläge hat einen Werbeeffekt.
Wie sicher sind an diesem vierten Adventswochenende denn noch die deutschen Weihnachtsmärkte?
Ich persönlich würde nach wie vor auf den Weihnachtsmarkt gehen. Aber ich bin mir sicher, dass die Besucherzahlen jetzt massiv einbrechen werden. Gerade Familien werden sich fragen, ob sie ein Risiko eingehen wollen. Die Betreiber der Weihnachtsmärkte, die Kommunen, die Sicherheitsbehörden müssen das gesamte Sicherheitskonzept grundsätzlich überdenken. Es ist offensichtlich, dass hier einiges schiefgelaufen ist. Vieles ist verzeihbar, aber dass genau dieselbe Taktik wie vor acht Jahren noch einmal funktioniert hat, hätte nicht geschehen dürfen. Es wird eine Herausforderung sein, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.
Auch vor der Europameisterschaft in Deutschland und den Olympischen Spielen in Paris im vergangenen Sommer gab es große Bedenken, dass „weiche Ziele“ wie Public-Viewing-Veranstaltungen nicht ausreichend geschützt werden könnten. Dennoch ist es nicht zu Anschlägen gekommen. Was lief da anders?
Bei den Olympischen Spielen wissen wir, dass es einige Versuche gab, Anschläge zu verüben, die jedoch von den französischen Behörden verhindert wurden. Was die EM in Deutschland betrifft, ist dazu noch nichts bekannt. Grundsätzlich gilt: In einer freien Gesellschaft kann im öffentlichen Leben nicht jede Ansammlung von Menschen von der Polizei beschützt werden. Daher müssen wir uns darauf konzentrieren, dass wir die potenziellen Täter fassen, bevor sie Anschläge verüben können.
Wie kann das gelingen?
Die Polizei und die Nachrichtendienste müssen viel intensiver im Internet unterwegs sein. Das sind die Orte, an denen heutzutage Radikalisierung stattfindet. Wir brauchen mehr virtuelle Agenten. Mein Eindruck ist, dass sich die Sicherheitsbehörden mit diesem virtuellen Raum immer noch schwertun. Doch die Polizei muss dort genauso präsent sein wie an physischen Orten. Natürlich müssen die Behörden den Hinweisen dann auch nachgehen. Das scheint in diesem Fall nicht funktioniert zu haben.
In der öffentlichen Debatte und auch im aktuellen Bundestagswahlkampf wird dieser Anschlag rechten Kräften wie der AfD Auftrieb geben.
Al Abdulmohsen war weder Islamist, noch ist er seit der sogenannten Flüchtlingswelle der Jahre 2015 und 2016 gekommen. Doch auf vielen Plattformen und Telegrammkanälen, auf denen sich Rechtsextreme austauschen, zeigt sich schon jetzt, dass diese Tatsache schlicht ignoriert wird. Das Narrativ dort ist: „Dieser Mann hätte nicht in Deutschland sein sollen. Hätten wir eine Strategie der ‚Remigration‘ verfolgt, hätte dieser Anschlag nicht geschehen können.“ Die AfD wird auf zynische Weise versuchen, die Tat für sich zu instrumentalisieren, obwohl der Täter eigentlich aus ihrem Unterstützerkreis kam.
Man könnte fast sagen, er hat damit Wahlkampf für die AfD gemacht.
Es gibt auch schon die ersten Stimmen, die vermuten, dass genau das sein Ziel war. Ich glaube, das ist ein bisschen weit hergeholt. Dafür, dass das tatsächlich seine Absicht war, möchte ich erst noch mehr Belege sehen.
Aber natürlich werden wir in den kommenden Wochen in Deutschland eine Riesendebatte über das Thema Migration haben. Das vereinfachende und verfälschende Narrativ der AfD dazu verfängt bei vielen Menschen.
Von solchen Ereignissen profitieren die politischen Kräfte, die polarisieren wollen. Dazu zählen rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte genauso wie Islamisten. Auch das Ziel von Terrorismus ist es, Gesellschaften zu spalten. Es wird eine große Herausforderung sein, dagegen anzukommen.
Was können die demokratischen Kräfte tun, um die Debatte zu versachlichen?
Die Fakten ans Licht bringen und gut zu kommunizieren. Genau zu erklären, was die Tatumstände waren. Und auch Fehler einzuräumen und diese aufzuarbeiten. Man kann diesen Anschlag nicht wegwünschen. Menschen sind gestorben, viele wurden schwer verletzt. Die Sicherheitsbehörden müssen dringend daran arbeiten, das Risiko solcher Taten künftig zu minimieren.
Das Interview führte Anja Wehler-Schöck.
Mehr zu den Themen Terror und Terrorbekämpfung gibt es regelmäßig auch hier in der Terrorlage. Sollte Sie noch kein Abonnent sein, sollte Sie dies unbedingt werden:
Alle Abonnenten erhalten per Email einen Rundbrief mit aktuellen Analysen und Einschätzungen. Wer sich entscheidet, die Arbeit meines Teams mit einem monatlichen Betrag zu unterstützen, bekommt zusätzliche Posts, Analysen, Interviews und Hintergundinfos, die ich zusammen mit meinem Mitstreiter Dr. Aymenn al-Tamimi exklusiv für diesen Substack erstelle.