Seit der Terroroffensive vom 7. Oktober schaut die Weltöffentlichkeit gebannt auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Doch ein mindestens genauso wichtiger Konflikt spielt sich im Norden des Landes ab, wo Israel der Hisbollah gegenübersteht.
Die Hisbollah ist eine von den iranischen Revolutionsgarden im Jahr 1982 gegründete schiitische Partei, Miliz und Terrororganisation, die im Libanon eine Art „Staat im Staate“ aufgebaut hat. Vom Süden des Landes aus feuert sie seit Jahren Raketen auf Israel und hat im Grenzgebiet mehrfach israelische Soldaten gekidnappt.
Aus israelischer Sicht war die Hisbollah stets eine größere Bedrohung als die Hamas: Die Gruppe hat eine viel engere Beziehung mit dem Iran. Sie ist militärisch professioneller aufgestellt als die palästinensischen Gruppen. Und sie kann im Libanon schalten und walten, wie es ihr gefällt. Nicht zuletzt: Sie verfügt über ungefähr zehnmal so viele Raketen wie die Hamas.
Mein Kollege Boaz Ganor, der jahrzehntelang das International Institute for Counter-Terrorism an der Reichman-Universität in Israel leitete, drückte es kürzlich so aus: „Die Hamas ist [für Israel] eine taktische Bedrohung; die Hisbollah eine strategische; und der Iran eine existenzielle“.
Auf die Terroroffensive vom 7. Oktober und die darauffolgende israelische Militärkampagne reagierte die Hisbollah zunächst zurückhaltend. Die Zahl der Raketen, die auf den Norden Israels abgeschossen wurden, erhöhte sich zwar, aber nicht so stark wie befürchtet. Vor einer großen Eskalation schreckte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah offenbar zurück.
Zum ersten Mal gibt es jetzt Daten und Fakten über den „Schattenkrieg“, den Israel seit dem 7. Oktober gegen die Hisbollah führt. Zusammengestellt wurden diese von meinem langjährigen Freund und Nahostexperten Haid Haid, der für die legendäre britische Denkfabrik Chatham House arbeitet.
Haid hat alle öffentlichen — und semi-öffentlichen — Informationen über israelische Angriffe auf die Hisbollah seit dem 7. Oktober 2023 ausgewertet. Was er dabei herausgefunden hat:
· Israel hat in den vergangenen neun Monaten knapp 30 militärische Anführer der Hisbollah im Süden des Libanon getötet.
· Elf davon gehörten der Nasser-Einheit an, die für Mörser-, Raketen- und Drohnenangriffe auf Israel zuständig ist.
· Zehn waren Teil der Radwan-Einheit, die sich auf das Vordringen in israelisches Territorium – speziell zur Geiselnahme – spezialisiert.
· Acht stammten aus anderen Einheiten der Gruppe, darunter Experten zur Entwicklung von neuen Waffen.
Laut Haid verfolgen die Israelis dabei mehrere Ziele. Natürlich geht es ihnen primär darum, die militärische Kapazität der Hisbollah zu schwächen. Aber genauso wichtig ist es, die Hisbollah zu verunsichern. Ihre Botschaft: Wir kennen euch. Wir wissen, wo ihr steckt. Und: Wir können euch jeden Tag „ausschalten“.
Das Problem: Israel ist es bisher nicht gelungen, die militärische Fähigkeit der Hisbollah nachhaltig zu beeinträchtigen. Die militärischen Anführer würden einfach durch andere ersetzt, so Haid.
Vor allem: Die Israelis sind weit davon entfernt, die Gruppe hinter den strategisch wichtigen Litani-Fluss zurückzudrängen. Und das heißt, dass 60.000 Israelis, die seit dem 7. Oktober aus dem Norden Israels evakuiert wurden (und seitdem in Notunterkünften leben), weiterhin nicht in ihre Heimatorte zurückkehren können.
Der Schattenkrieg, der sich an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon aktuell abspielt, könnte der Anfang eines größeren Konflikts sein. Entweder, weil sich Netanyahu dazu entscheidet, das „Problem Hisbollah“ durch eine massive Militäroffensive ein für alle Mal zu „lösen“. Oder weil eine Fehlkalkulation zu einer Eskalation führt.
Haids Fazit ist klar: Die Situation ist besorgniserregend. Mehr noch als der Konflikt in Gaza gefährdet die Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hisbollah die gesamte Region. Und wenn Amerika und der Iran dadurch in eine direkte Konfrontation geraten, droht ein globaler Konflikt.
Update: In einer früheren Version des Beitrags war von 300.000 evakuierten Israelis die Rede. Es sind aber nur 60.000. Ich danke Richard Schneider für den Hinweis.
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