Dschihadistischer Terror in Deutschland: Eine erste Bilanz
Deutschland hat verglichen mit anderen Staaten bisher Glück gehabt. Aber das muss nicht so bleiben.
Wie groß ist die Bedrohung durch den dschihadistischen Terrorismus in Deutschland? Bei den Recherchen für mein neues Buch Die Rückkehr des Terrors ist mir aufgefallen, wie wenig brauchbare Statistiken es zu diesem Thema gibt. Deswegen habe ich mir die Mühe gemacht, einige der wichtigsten Zahlen selbst zusammenzustellen.
Das Ergebnis:
In Deutschland gab es seit September 2001 insgesamt 19 durchgeführte oder teilweise durchgeführte salafistisch-dschihadistische Anschläge.
Insgesamt kamen dabei 25 Menschen zu Tode — drei davon waren Terroristen.
119 Personen wurden (teilweise schwer) verletzt.
Bevor ich diese Zahlen einordne, hier zuerst einige Informationen darüber, wie ich auf sie gekommen bin:
Der Erfassungszeitraum ist 11. September 2001 bis 11. September 2024.
Alle Daten stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen (z.B. Generalbundesanwalt, Medienberichte, Chronologien islamistischen Terrors, etc.) sowie meiner eigenen Forschungsarbeit (bspw. für mein neues Buch).
Bei allen der aufgelisteten Anschlägen lässt sich eine salafistisch-dschihadistische Motivation belegen, was bedeutet, dass sich die Täter als Unterstützer der Terrorgruppen al-Qaeda und Islamischer Staat (IS) (beziehungsweise deren Ableger) zu erkennen gegeben haben. Nicht gezählt wurden Attentate, bei denen keine nachweisbare dschihadistische Motivation vorlag (wie 2023 in Brokstedt) oder die Täter vom Gericht als unzurechnungsfähig (bzw. nicht schuldfähig) eingestuft wurden (wie 2022 in Würzburg). Nicht enthalten sind auch die Anschläge auf Synagogen im Jahr 2022 in Nordrhein-Westfalen, die von staatlichen Stellen im Iran in Auftrag gegeben wurden.
Entscheidend ist, dass die Anschläge in Deutschland stattgefunden haben. Nicht gezählt wurden Anschläge deutscher Dschihadisten im Ausland oder dschihadistische Anschläge auf Deutsche im Ausland. Enthalten sind jedoch Anschläge von Ausländern in Deutschland, so etwa der Anschlag eines Österreichers auf das israelische Generalkonsulat Anfang dieses Monats in München.
Als durchgeführt beziehungsweise teilweise durchgeführt gelten Anschläge, wo sich nachweisen lässt, dass ein Anschlagsplan in die Tat umgesetzt wurde, also beispielsweise durch das Platzieren eines Sprengsatzes am beabsichtigten Ziel. Es zählen deshalb auch solche Anschläge als durchgeführt (beziehungsweise teilweise durchgeführt), bei denen niemand zu Schaden gekommen ist, etwa weil der Sprengsatz fehlerhaft war (wie 2006 in Köln) oder dieser gerade noch rechtzeitig entschärft werden konnte (wie 2012 in Bonn).
Was bedeuten nun diese Zahlen?
Die gute Nachricht zuerst: Verglichen mit anderen westeuropäischen Ländern hat der dschihadistisch-salafistische Terrorismus in Deutschland bislang relativ wenige Todesopfer gefordert. So liegt die Zahl der Getöteten in Frankreich im gleichen Zeitraum bei über 270 – mehr als das Zehnfache! In Großbritannien beträgt sie immerhin 77 – also dreimal so viel.
Die Gründe dafür sind wahrscheinlich vielfältig und bedürfen genauerer Forschung. Arbeiten deutsche Sicherheitsbehörden besser als anderswo? Sind deutsche Terroristen „inkompetenter“ als ihre europäischen Mitstreiter? Hat es etwas mit der Struktur, Dynamik und Zusammensetzung dschihadistischer Netzwerke zu tun? Oder liegt die Erklärung in bestimmten politischen und sozio-ökonomischen Umfeldfaktoren? Obwohl zu Aspekten dieser Themen bereits geforscht wurde, existiert meines Wissens keine Gesamtbetrachtung — schon gar nicht im europäischen Vergleich.
Trotz der vergleichsweisen geringen Anzahl von Todesopfern sollte nicht vergessen werden, dass es bei Terrorismus nicht (notwendigerweise) um Tote, sondern — buchstäblich — um Terror geht. Wie ich in meinem Buch schreibe: „Terrorismus ist vor allem eine Form der psychologischen Kriegsführung – ein Versuch, das Denken und die Einstellungen von Menschen durch Akte schockierender Gewalt zu manipulieren. Er zielt nicht allein auf die unmittelbaren, physischen Opfer, sondern auf die breite Masse der Gesellschaft, die von terroristischer Gewalt in Schrecken versetzt, beeinflusst und verunsichert werden soll“.
Mit anderen Worten: Das Gefühl der Bedrohung existiert auch ohne eine große Zahl von Todesopfern: Es verändert den politischen Diskurs, befördert gesellschaftliche Polarisierung und beeinträchtigt die Lebensqualität von Menschen und ganzen Communitys. Dies trifft insbesondere Minderheiten, wie zum Beispiel Muslime und Juden, die solchen Bedrohungen überproportional stark ausgesetzt sind — und zwar nicht nur von salafistischen Dschihadisten, sondern auch von Rechtsextremisten.
Hinzu kommt, dass die Bedrohung auch — und gerade — in Deutschland in den letzten Monaten wieder deutlich am Ansteigen ist. In den ersten neun Monaten des Jahres 2024 trugen sich hierzulande fast fünfmal so viele Anschläge zu wie im Durschnitt der letzten 23 Jahre. Meiner Meinung nach ist das kein Zufall, sondern der Beginn einer neuen Welle.
Fazit: So wichtig es ist, die terroristische Gefahr einzuordnen, so wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass weitere Anschläge gar nicht erst passieren.
Mehr zu den aktuellsten Entwicklungen im Bereich des dschihadistischen Terrorismus gibt es auch in meinem neuen Buch Die Rückkehr des Terrors, was vor wenigen Tagen bei Rowohlt Berlin erschienen ist:
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