Ein neuer Terroraufruf des IS
Die Gruppe bemüht sich, aus dem Gaza-Konflikt Kapital zu schlagen
Seit der Terroroffensive der Hamas vom 7. Oktober letzten Jahres beobachten Terrorismusexperten sehr genau, wie sich der Islamische Staat (IS) zu dem Angriff und der darauffolgenden israelischen Militäroffensive positioniert. Gestern hat die Organisation nach langer Zeit wieder einen neuen Terroraufruf veröffentlicht.
Die Frage, wie sich der IS zur Situation in Gaza verhält, ist deshalb interessant, weil die Gruppe mit der Hamas und ihrer Terroroffensive vom 7. Oktober streng genommen nichts zu tun hat. Im Gegenteil: Der IS hat die Hamas in Vergangenheit immer wieder scharf wegen ihres vermeintlichen „Nationalismus“ und ihrer engen Beziehung zum (schiitischen) Regime in Teheran kritisiert.
Die Abneigung gegenüber der Hamas ist so stark, dass sich der IS nach dem 7. Oktober wochenlang überhaupt nicht direkt zu der Terroroffensive äußerte. Eine erste Nachricht im wöchentlichen IS-Rundbrief al-Naba vom 12. Oktober 2023 druckte ein Foto vom Gaza-Konflikt und ermutigte seine Leser ganz allgemein zum Kampf gegen Ungläubige.
Die nächste Ausgabe enthielt eine Infografik mit verschiedenen Vorschlägen, wie man sich gegen „die Juden“ zur Wehr setzen könne — so etwa durch terroristische Angriffe auf „jüdische Viertel“, „jüdische Tempel“ oder „jüdische Nachtklubs und Wirtschaftsinteressen“.
Unter der Überschrift „Für den Sieg in Palästina“ wurde jedoch explizit davor gewarnt, sich zu stark mit dem palästinensischen Kampf zu identifizieren: „Bei dem Konflikt mit den Juden geht es nicht um Patriotismus, sondern Ideologie“, erklärt der IS, „Das Schlachtfeld ist deswegen überall, nicht nur in Palästina selbst“.
Erst Anfang Januar rang sich der IS zu einer eigenen, 34-minütigen Audiobotschaft über den Gaza-Konflikt durch. Der Sprecher der Gruppe, Abu Hudhayfa al-Ansari, machte darin nochmals klar, dass es sich um einen Religionskrieg handele und nicht einen Krieg um Grenzen oder Territorium. Juden sollten terrorisiert werden, „weil sie Juden sind“ — nicht etwa, weil sie in israelischer Uniform gegen Palästinenser kämpften.
Laut Abu Hudhayfa seien ungeschützte Menschenmengen besser als „harte Ziele“, und auch Gotteshäuser eigneten sich für Anschläge besonders gut. Alle Methoden kämen dabei in Frage, denn es mache letztlich keinen Unterschied, ob man die Ungläubigen mit Gewehren erschieße, sie enthaupte, mit dem Auto überfahre oder ihnen ein Messer in den Leib ramme. „O Löwen des Islam“, heißt es zum Schluss, „jagt Eure Beute!“.
Dass solche Aufrufe Wirkung haben können, bewies sich zwei Monate später. Am 2. März stach der 15-jährige Houij A. im Zentrum Zürichs auf offener Straße einen orthodoxen Juden nieder. In einem Video, das er kurz vor seiner Tat veröffentlichte, bekannte er sich zum IS und wiederholte genau die Worte, die Abu Hudhayfa in seiner Audiobotschaft gesprochen hatte.
Diese Woche nun greift der Leitartikel im al-Naba-Rundbrief ein weiteres Mal die Situation im Nahen Osten und speziell Gaza auf. Unter der Überschrift „In Zeiten des Massakers” macht er darin klar, dass Empörung über zivile Opfer nutzlos ist, wenn sie nicht dazu führt, die richtige Lösung zu ergreifen: nämlich den korrekten Glauben (islamischer Monotheismus) und die Tat (gewaltsamer Dschihad).
Wie in dem Artikel beschrieben, bestehe der einzige Weg, das „Massaker an Muslimen“ zu bekämpfen darin, Ungläubige zu massakrieren, oder – um eine gängige Redewendung zu verwenden – Feuer mit Feuer zu bekämpfen.
Wer von der „richtigen” Lösung abweiche — wer also das bestehende System verteidige und den Islamischen Staat bekämpfe —, der werde selbst zum Mittäter an den Massakern. Nur wer den „richtigen” Weg befolge, könne Sünde, Bestrafung und dauerhafte Erniedrigung vermeiden.
Der Artikel schließt mit einer Ansprache an Muslime, die Gewalt ablehnen oder sich ihr entziehen: Er fordert sie auf, islamische Geschichte zu studieren. Dann würden sie erkennen, dass der Weg des richtigen Glaubens und des Dschihads, den der Islamische Staat eingeschlagen hat, genau der Weg sei, durch den der Prophet Muhammad, seine Gefährten und ihre Nachfolger große Eroberungen und Siege über die Ungläubigen errungen haben.
Fazit: Inhaltlich und ideologisch enthält der Leitartikel wenig Neues. Der IS versucht nach wie vor, aus der Situation im Nahen Osten im Sinne Kapital zu schlagen, sich aber gleichzeitig von seinen Verursachern — der Hamas — zu distanzieren.
Die Frage ist, ob ihm dieser komplizierte Spagat gelingt.
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