Führt die Revolution in Syrien zu mehr Terrorismus?
5 mögliche Szenarien nach der Machtübernahme durch die HTS
Welche Auswirkungen hat der Sturz des syrischen Diktators Assad auf die Terrorlage?
Diese Frage habe ich gestern in Oxford zusammen mit zwei langjährigen Freunden und ausgewiesenen Experten für den Dschihadismus — Dr. Aymenn al-Tammimi und Professor Thomas Hegghammer — diskutiert.
In unserem Gespräch ging es vor allem darum, Szenarien herauszuarbeiten, die ein Wiederaufflammen des dschihadistischen Terrorismus — sowohl innerhalb der Region als auch im Westen — begünstigen könnten.
Natürlich sind alle Prognosen über die mittel- und langfristigen Konsequenzen der Ereignisse in Syrien verfrüht. Der Staub in Damaskus hat sich noch nicht gelegt, und genauso wie kaum jemand ahnen konnte, dass das Assad-Regime innerhalb von nur zwei Wochen implodieren würde, weiß niemand, was sich aus der aktuellen Situation in zwei, vier oder sechs Monaten entwickeln wird.
Dennoch gelang es uns, fünf mögliche Risiken zu identifizieren:
(1) Befreiung der IS-Kämpfer in kurdischen Camps
Durch den Fall des Regimes in Damaskus ist die Situation im gesamten Land in Bewegung gekommen. Die kurdische Autonomie im Osten des Landes ist erneut unter militärischem Druck — sowohl durch die von der Türkei unterstützten SNA-Milizen als auch durch Verbündete der siegreichen Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Verliert die kurdische SDF die Kontrolle über ihre Gefangenenlager, würden zehntausende IS-Kämpfer und ihre Familienangehörigen freikommen — viele davon aus westlichen Ländern. Dies könnte eine Stärkung des IS innerhalb Syriens, der Region und sogar in Europa zur Folge haben.
(2) Dschihadistische Auslandskämpfer der HTS
Obwohl sich die HTS glaubwürdig vom „globalen Dschihad” distanziert und ihre Verbindung zur al-Qaida gekappt hat, zählen Dschihad-Veteranen aus aller Welt zu ihren Kämpfern, darunter zahlreiche Chinesen, Zentralasiaten und Westeuropäer. Was mit diesen Kämpfern — die zum Teil seit vielen Jahren bei der Gruppe sind — geschieht, ist ungewiss. Ihre ursprüngliche „Mission“, der Sturz von Assad, ist erfüllt. Werden sie also in Syrien bleiben? Oder ziehen sie zur nächsten „Dschihad-Front“? Fest steht bisher nur, dass die HTS diese Kämpfer auf keinen Fall an ihre Herimatländer ausliefern will.
(3) Konflikt mit Israel
Infolge der Machtübernahme durch die HTS hat Israel zahlreiche militärischen Ziele in Syrien angegriffen und ist weiter als bisher in syrisches Territorium vorgedrungen. Aus israelischer Sicht ist dies eine Vorsichtsmaßnahme, um sich vor möglichen Folgen des Machtwechsels zu schützen. Doch viele Syrer sehen darin eine Aggression und „feindliche Landnahme“. Die HTS hat sich bisher mit Äußerungen hierzu zurückgehalten. Doch das könnte sich ändern, wenn die neue Regierung an Unterstützung verliert und nach einem Thema sucht, mit dem sich die Bevölkerung mobilisieren lässt.
(4) Befreiung dschihadistischer Gefangener
Die Öffnung von Assads Folterkammern — wie zum Beispiel das Gefängnis in Sednaya — war eines der eindrucksvollsten Bilder der letzten Woche. Unvorstellbare Schrecken haben sich dort abgespielt. Tausende von Mitgliedern der politischen Opposition wurden hier zu Unrecht festgehalten und gefoltert. Doch wie ähnliche Erfahrungen in Tunesien, Ägypten und Afghanistan gezeigt haben, befanden sich unter den Gefangenen vermutlich auch Dschihadisten, die bereits vor ihrer Verhaftung in Terrornetzwerken aktiv waren und sich durch ihren Gefängnisaufenthalt noch weiter radikalisiert haben. Was werden sie als Nächstes tun?
(5) Ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs
Wie oben erwähnt: Niemand weiß, wie sich die Situation in Syrien mittelfristig entwickeln wird. Gelingt es der HTS, das Land zu einen und eine stabile Regierung auf die Beine zu stellen? Oder führt ihre Machtübernahme zu neuem Konflikt und Spaltung? Falls es zu einem Wiederaufflammen des Konflikts kommen, dann hätte auch der IS wieder die Chance, das resultierende Chaos für sich zu nutzen und neues Territorium für sich in Anspruch zu nehmen. Selbst die Rekrutierung von Auslandskämpfern, zum Beispiel aus Europa, würde dann wieder zum Thema.
Natürlich sind nicht alle der fünf Szenarien gleichermaßen wahrscheinlich. Viel hängt davon ab, ob es die HTS mit dem Projekt eines freien und pluralistischen Syriens ernst meint und ob sie es schafft, das Vertrauen von Minderheiten und ehemaligen Gegnern zu gewinnen. Auch das Verhalten von Regionalmächten — ganz besonders der Türkei — wird entscheidend sein.
Kein Zweifel: In Syrien steht aktuell viel auf dem Spiel.
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