Wer ist Curtis Yarvin?
Wie ein rechtslibertärer Blogger zum einflussreichen Ideengeber für Trump und Vance wurde
Im aktuellen US-Wahlkampf wird viel über den Einfluss von konservativen Christen auf Trumps Kampagne berichtet. Doch viel wichtiger könnte eine ganz andere Denkrichtung werden, nämlich ein techno-autokratischer Libertarismus, der Demokratie ablehnt und die USA zu einer Art Aktiengesellschaft umbauen will.
Das ist die politische Philosophie von J.D. Vance, Trumps Vizepräsidentschaftskandidaten, sowie von Silicon-Valley-Milliardären, wie etwa Peter Thiel und Elon Musk, die Vances Karriere befördert haben und Trumps Wahlkampagne aktuell mit zig Millionen Dollar unterstützen. Ihr Schöpfer ist der amerikanischer Programmierer Curtis Yarvin, der sie während der 2010er Jahre entwickelt und auf einem Blog veröffentlicht hat.
Der linksliberale Autor Seth Abramson hat gestern in einem vielbeachteten Thread darauf hingewiesen, wie einflussreich diese Ideen während einer erneuten Trump-Präsidentschaft werden könnten — nicht zuletzt, weil Trump mental immer stärker abbaut und Vance zum entscheidenden Ideengeber innerhalb des Weißen Hauses werden könnte.
In meinem Buch Die Logik der Angst habe ich Yarvin ein Unterkapitel gewidmet und schon damals darauf hingewiesen, wie einflussreich seine Ideologie mit Peter Thiels Hilfe werden könnten. Auch Thiels Protégé J.D. Vance — damals noch Senatorenkandidat — findet bereits Erwähnung.
Im Folgenden reproduziere ich einen Auszug. Wer verstehen möchte, was Amerika und der Welt während einer erneuten Trump-Präsidentschaft bevorsteht, sollte unbedingt Curtis Yarvin kennen.
Wer ist Curtis Yarvin?
Führende Köpfe [der rechtslibertären] Bewegung sind in den letzten fünfzehn Jahren zu dem Schluss gekommen, dass Freiheit und Demokratie nicht mehr kompatibel sind und dass das westliche Gesellschaftsmodell in seiner aktuellen Form gescheitert ist. Hieraus entstand eine neue ideologische Strömung namens «Neoreaktion», die absolute Freiheitsrechte mit einer autoritären Staatsstruktur verbindet und – zumindest anfangs – auf einen kompletten Rückzug aus der liberalen Moderne setzt. Das utopischste Projekt, das dieser Denkrichtung entsprang, ist das sogenannte Seasteading, bei dem sich Anhänger auf schwimmenden Inseln niederlassen und dort mit neuen Staatsprojekten experimentieren wollen.
Der einflussreichste Denker dieser Tradition ist der amerikanische Programmierer Curtis Yarvin, der als Diplomatensohn einen Großteil seiner Kindheit im Ausland verbrachte, früh als hochbegabt galt und an einer Reihe von Eliteuniversitäten studierte. Bekannt wurde er durch seinen Blog Unqualified Reservations («Vorbehaltlose Vorbehalte»), auf dem er zwischen 2007 und 2014 seine politischen Ideen entwickelte. Anders als die meisten rechten Vordenker hat Yarvin (noch) kein Buch veröffentlicht; sein «Werk» besteht aus Blog-Einträgen, die er anfangs noch unter dem Pseudonym «Mencius Moldbug» veröffentlichte. Der Historiker Joshua Tait hält ihn deswegen für den ersten rechtsextremen Philosophen der Internet-Generation – nicht zuletzt, weil sein respektloser, oftmals ironischer Stil und kalkuliertes Brechen von Tabus rechtsextreme Aktivisten stark beeinflusst hat.
Wie ein Großteil der Software-Ingenieure im Silicon Valley war Yarvin zunächst ein gewöhnlicher Libertärer, der staatliche Eingriffe ablehnte und sich viel auf seine Intelligenz und Eigenständigkeit einbildete. Doch besonders nach der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008, die zu massiven staatlichen Rettungsprogrammen geführt hatte, sowie dem anschließenden Wahlsieg von Barack Obama, der ein staatliches Gesundheitsprogramm einführen wollte, wurde seine Haltung zur Demokratie immer negativer. Aus Yarvins Sicht hatte sich eine linke Elite des Staates bemächtigt und arbeitete an der «Übernahme» der Gesellschaft.
Die Kathedrale
Am schockierendsten war seinem Eindruck nach, dass es von Medien und Experten daran kaum Kritik gab. Aus seiner Sicht propagierten praktisch alle Eliten dieselben Wertvorstellungen – speziell in Bezug auf Fortschritt und Gleichheit – und verhalfen sich gegenseitig in mächtige Positionen. Wer ihre Vorstellungen nicht teilte oder gegen sie opponierte, war verpönt und hatte keine Chance, in sie vorzustoßen. Wie Renaud Camus glaubte er nicht an eine Verschwörung: «[Die Eliten] haben kein Zentrum, und es gibt keine Strippenzieher.» Für ihn handelte es sich um ein «sich selbst regulierendes System», in dem sich Medien und Machthaber gegenseitig befruchten. Die Bezeichnung, die er dafür wählte, war «die Kathedrale».
Demokratie sei laut Yarvin unter diesen Bedingungen zur «Simulation» verkommen, und individuelle Freiheit werde zum schwindenden Gut. Die Staatsidee, die er formulierte, ist deshalb keine demokratische. Ihm schwebt ein autoritärer Staat mit wenigen, klar definierten Aufgaben (Justiz, Sicherheit, Verteidigung) vor. Staatschef ist eine Art CEO, der über absolute Macht verfügt und von einem «Aufsichtsrat» kontrolliert wird. Genauso wie in einem Unternehmen gibt es keine demokratische Wahl; «Eigentümer» haben sich Anteile gekauft und profitieren von eventuellen Gewinnen. Im Ergebnis sei dies ein kleiner, aber zu hundert Prozent effizienter Staat, der seinen Bürgern (oder Kunden?) maximale Freiheit garantiere, auch wenn sie keinen direkten Einfluss auf Regierung oder Gesetze hätten. Yarvin bezeichnet diese Mischung aus Aktiengesellschaft und absoluter Monarchie als «Neo-Kameralismus».
Yarvins Verhältnis zur Moderne ist wie bei vielen Rechtslibertären zweideutig: Einerseits lehnt er liberal-moderne Vorstellungen von Gleichheit ab; andererseits idealisiert er aufklärerische Werte wie etwa Vernunft, Rationalität und – natürlich – individuelle Freiheit. Was ihn rechtsextrem macht, ist nicht nur sein Blick auf Demokratie und Autoritarismus, sondern seine Vorstellungen davon, wer Bürger seines «neo-kameralistischen» Staates sein würde. In verschiedenen Kommentaren präsentierte sich Yarvin als Anhänger eines biologischen Rassismus, der bestimmte «Rassen» für intelligenter hielt als andere (wovon er sich später jedoch distanzierte); er verglich den Rechtsterroristen Anders Breivik mit Nelson Mandela; und er machte deutlich, dass Bevölkerungen ethnisch und kulturell homogen sein sollten. Obwohl vieles darauf hindeutet, dass solche Statements nicht immer ernst gemeint waren, zeigen sie deutlich, welche Art von Publikum er suchte.
Architekturen des Exits
Zu Yarvins enthusiastischsten Unterstützern gehört der Milliardär und Internet-Investor Peter Thiel, der sein Vermögen unter anderem mit PayPal und Facebook gemacht hat. Genauso wie Yarvin ist Thiel ein Libertärer, der «politische Korrektheit» und den «Gleichheitswahn» ablehnt. Und ähnlich wie Yarvin hatte auch Thiel den Glauben an den demokratischen Prozess verloren. In einem Artikel für ein libertäres Magazin argumentierte er, dass Freiheit und Demokratie im heutigen Amerika «nicht mehr kompatibel» seien. Da beide in der Nähe von San Francisco wohnten, kam es bereits Anfang der 2010er-Jahre zu einem Kennenlernen, aus dem im Laufe der Zeit eine enge politische, intellektuelle und sogar geschäftliche Beziehung entstand (Thiel investierte im Jahr 2014 in Yarvins Firma). Beide waren sich einig, dass politisches Engagement in Amerika keinen Sinn mehr ergab. Ihr gemeinsames Ziel waren «Architekturen des Exits» – also ein systematischer Rückzug aus dem System.
Die ambitionierteste dieser «Architekturen» bestand aus schwimmenden Inseln, mit denen Libertäre der vermeintlichen liberal-modernen Tyrannei entziehen wollten. Die Idee des Seasteading hatte unterschiedliche Wurzeln, geht in ihrer aktuellen Form aber auf den Informatiker und Aktivisten Patri Friedman zurück. Kern der Idee sind schwimmende Städte, die sich aus «Modulen» zusammensetzen und je nach Bedarf miteinander verkuppelt werden. Die so entstehenden «Staaten» befänden sich auf internationalen Gewässern und hätten ihre eigenen Gesetze. Wem der eigene Staat nicht mehr passte, könnte sich mit seinem Modul abkoppeln und einem anderen anschließen. Aus Friedmans Sicht würde hierdurch ein perfekter Markt entstehen – mit der Folge, dass sich im Laufe der Zeit immer bessere, immer freiere Gesellschaften bilden würden. Demokratie war nicht mehr notwendig, da jeder Bewohner jederzeit die Möglichkeit hatte, sich von einem schlechten, ungerechten oder unpassenden Regierungssystem abzusetzen. Seasteading war laut Friedman eine «Maschinerie der Freiheit».
Was lediglich wie eine verrückte Utopie klingt, war auch eine – bis Peter Thiel entschied, ihre Umsetzung mit mehreren Millionen Dollar zu unterstützen. Thiel sah in Friedmans Seasteading die Verwirklichung der Vision, die Yarvin und er miteinander diskutiert hatten. Es versprach Gesellschaften, deren Betonung auf individueller Freiheit und Selbstverwirklichung lag und die ungefähr so funktionierten wie die «neokameralistische» Mischung aus Unternehmen und absoluter Monarchie, die Yarvin in seinem Blog beschrieb. Thiel hoffte außerdem, dass die schwimmenden Städte eine solche Strahlkraft entwickeln würden, dass sich existierende – das heißt, auf dem Festland befindliche – Staaten an ihnen orientieren würden: «Seasteading», so Thiel, «[ist] ein wichtiger Schritt, um die Entwicklung effizienterer, praktischerer Modelle des öffentlichen Sektors auf der ganzen Welt zu fördern.» Mehr noch: «Durch Seasteading wird sich das Wesen von Regierungen auf sehr grundlegende Weise ändern.»
Wie sich herausstellte, waren die rechtlichen, politischen und technischen Hindernisse immens. Obwohl Thiel zum wichtigsten Förderer des Seasteading-Instituts wurde, das Lösungen für diese Probleme erarbeiten sollte, ging jahrelang nichts voran. Bereits für 2020 hatte man eine erste schwimmende Stadt versprochen, aber bis heute gibt es noch nicht mal ein Pilotprojekt. Es schien, als sei selbst für einen der reichsten Männer der USA die Flucht aus der liberalen Moderne schwieriger als gedacht.
Und in der Tat: Seit dem Wahlsieg von Donald Trump im Jahr 2016 interessierte sich Thiel wieder verstärkt für «konventionelles» politisches Engagement und unterstützte bei vergangenen Wahlen rechts-libertäre Kandidaten wie etwa J. D. Vance, einen prominenten Senator aus Ohio. Auch an Thiels Beispiel wird deshalb deutlich, dass die Entscheidung für «Flucht» oder «Kampf» oftmals pragmatische Gründe hat, sich spontan ändern kann und dass die zwei Strategien nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen.
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Dies ist ein Auszug aus Die Logik der Angst, meinem 2023 bei Rowohlt Berlin erschienenen Buch über den Rechtsextremismus und seine (ideologischen) Wurzeln.
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