Wie legitim war Israels Pager-Angriff?
In den sozialen Medien und unter Völkerrechtlern tobt der Kampf um die Deutungshoheit
Genauso wichtig wie der Verlauf der Frontlinie ist in modernen Kriegen der Kampf um die Köpfe. Es ist deshalb keine Überraschung, dass nur wenige Stunden nach dem spektakulären israelischen Angriff auf die Pager und Walkie-Talkies von Hisbollah-Kämpfern eine heftige Debatte über dessen Legitimität entstanden ist:
War der israelische Angriff ein „Meisterstück“, wie die Anhänger Israels behaupten? Oder war es ein Kriegsverbrechen, wie seine Gegner argumentieren?
Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Absicht man Israel zuschreibt und welche Konsequenzen in Zusammenhang mit dem Angriff gebracht werden. Konkret: Zielte der Angriff nur auf Kämpfer der Hisbollah, und wenn ja, wie viele unbeteiligte Zivilisten kamen dabei ums Leben?
Bei der Frage, ob der Angriff gezielt war, besteht für mich kein Zweifel: Nach allem, was wir wissen, hat der israelische Geheimdienst nicht irgendwelche Elektronik-Lieferungen in den Libanon mit Sprengstoff präpariert (was wahrscheinlich einfacher gewesen wäre), sondern gezielt solche des militärischen Arms der Hisbollah, bei denen davon ausgegangen werden konnte, dass diese für militärische Zwecke bestimmt waren.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, denn es gibt nach wie vor keine genauen, von unabhängiger Seite bestätigten Zahlen darüber, wie viele Menschen bei dem Angriff getötet wurden und welcher Anteil davon Zivilisten oder Unbeteiligte waren.
Desinformation in den sozialen Medien
Genau um diese Fragen dreht sich auch ein Großteil der aktuellen Auseinandersetzung in den sozialen Medien. Zwei Beispiele illustrieren, wie gezielt dabei auch mit Desinformation operiert wird.
So postete der Journalist Seamus Melkafzali noch am Tag des Angriffs, dass ein Arzt in einem Beiruter Krankenhaus durch einen Pager, der sich in seinem Besitz befunden habe, zu Tode gekommen sei. „Im Gesundheitssektor ist der Einsatz von Pagern in vielen Ländern Routine — darunter der Libanon“, so Melkafzali.
Der Post lässt den Eindruck entstehen, dass Israel willkürlich vorgegangen sei und zahlreiche Ärzte und Krankenpfleger, deren Job es ist, Leben zu retten, ihr eigenes verloren hätten.
Doch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit.
Wie der Journalist Oz Katerji, der selbst aus dem Libanon stammt, wenige Zeit später schrieb, handelte es sich nicht um irgendein Krankenhaus, sondern eines, das von der Hisbollah betrieben und kontrolliert wird. Und wie sich herausstellte, sei der getötete Arzt nicht irgendein Arzt gewesen, sondern ein relativ hochrangiges Mitglied der Terrormiliz.
Als Beleg dafür nennt Katerji die offizielle Bekanntgabe seines Todes durch die Gruppe und die Tatsache, dass sein Sarg mit ihrer Flagge drapiert wurde. Im Hisbollah-affinen Süden Beiruts gebe es bereits Plakate, die dem Doktor in Hisbollah-Uniform gedenken würden, so Katerji.
Ein weiteres Beispiel für Desinformation kommt nicht von Gegnern, sondern Unterstützern Israels. Dabei geht es um ein angebliches Memo der Hisbollah an ihren Generalsekretär, Nasran Hasrallah, in dem die Verluste aus dem Angriff aufgelistet werden.
Darin heißt es, dass 879 Mitglieder der Hisbollah und 291 Kommandeure getötet worden seien. 1735 hätten ihre „Fortpflanzungsorgane“ verloren, 509 seien erblindet. Auch 131 iranische und 79 jemenitische Verbündete der Hisbollah wären bei dem Angriff ums Leben gekommen.
Das Memo suggeriert, dass der israelische Angriff ein entscheidender militärischer Schlag war, der die militärischen Fähigkeiten der Gruppe gezielt und auf vernichtende Weise beeinträchtigt hat.
Das einzige Problem: Bei dem Dokument, das millionenfach auf Twitter gesehen wurde, handelt es sich um eine Fälschung.
Mein Mitstreiter Aymenn al-Tammimi, der Tausende solcher Dokumente von Gruppen wie Hisbollah und dem IS gesichtet hat, brauchte keine fünf Minuten, um es als solche zu entlarven.
Nicht nur seien die angegebenen Todeszahlen viel zu hoch und stünden im krassen Widerspruch zu Bekanntmachungen der Organisation, die dafür bekannt ist, „gefallenen Märtyrer“ öffentlich zu gedenken, so al-Tammimi.
Auch der angebliche Absender — „Hisbollah — der militärische Flügel“ — ist kein Begriff, den die Gruppe jemals verwendet. Laut al-Tammimi kämen Botschaften vom militärischen Flügel der Hisbollah stets vom sogenannten „Dschihad-Rat“.
Nicht zuletzt die Verwendung des gregorianischen (statt des islamischen) Kalenders und die informelle, nahezu kumpelhaftige Art und Weise, wie Nasrallah adressiert wird („Sei gegrüßt, Generalsekretär!“), deuteten auf eine Fälschung hin.
Al-Tammimis Fazit: „Wer auch immer dieses Dokument produziert hat, ist sicher kein Kenner der Hisbollah“.
Und was sagt das Völkerrecht?
Im deutschsprachigen Raum werden politischen Auseinandersetzungen stets sehr schnell zu juristischen. Nirgendwo sonst auf der Welt hört man so häufig den Satz „Das ist rechtlich nicht möglich“, wenn es um politische Probleme geht. Und in keinem anderen Teil der Welt vertraut man den (oftmals sehr elastischen) Prinzipien des Völkerrechts so stark wie bei uns.
Es ist deshalb kein Wunder, dass die Debatte über die Legitimität des israelischen Angriffs hierzulande vor allem juristisch geführt wird. Und wie fast immer findet sich für jede mögliche Auffassung ein Völkerrechtler, der bereit ist, diese entsprechend zu begründen.
Den meiner Meinung nach besten Überblick gibt ein Artikel in der Rheinischen Post, der zwei Schweizer Völkerrechtsprofessoren zitiert, die zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.
Andrew Clapham vom Genfer Graduate Institute argumentiert, dass es sich bei den Pagern und Funkgeräten im juristischen Sinne um „Sprengfallen“ handele, deren Verwendung in einem internationalen Vertrag illegal gemacht wurde. „Es ist unter allen Umständen verboten, [solche] Waffen… entweder zum Angriff, zur Verteidigung oder als Vergeltungsmaßnahme gegen die Zivilbevölkerung als solche oder gegen einzelne Zivilpersonen zu richten“, meint Clapham.
Der Angriff verstoße außerdem gegen die Genfer Konventionen, da vorhersehbar gewesen sei, dass auch Zivilisten zu Schaden kommen würden. Laut Clapham stehe „der militärische Nutzen [deshalb]… in keinem Verhältnis zum möglichen zivilen Schaden“. Wahrscheinlich müsse die Aktion sogar als Kriegsverbrechen bewertet werden.
Genau das bestreitet jedoch Thomas Burri von der Universtität St. Gallen. „Feindliche Kämpfer und militärisch genutzte Kommunikationssysteme sind [in einer kriegerischen Auseinandersetzung] legale Ziele. Wenn es wirklich nur Angehörige der Hisbollah waren, die diese Pager und Funkgeräte hatten, wäre die Ausübung der Gewalt sehr zielgerichtet gewesen, mehr, als es mit anderen Waffen unter Umständen möglich gewesen wäre“.
Daraus ergebe sich laut Burri eine andere Bewertung der Verhältnismäßigkeit: „Wenn bei einer solchen… Maßnahme nicht nur die gesamte Kommunikationsstruktur des Gegners ausgelöscht wird, sondern auch eine große Zahl von Kämpfern, dann kommt man mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss, dass sie unter dem humanitären Völkerrecht rechtmäßig ist“.
Am Ende des juristischen Diskurses gelangt man somit wieder an den Anfang. Im Kern geht es darum, ob sich der israelische Angriff vor allem gegen die Kämpfer und militärische Infrastruktur der Hisbollah gerichtet hat und in welchem Verhältnis militärische und zivile Opfer stehen.
Die Antwort auf die erste Frage lautet meiner Meinung nach ja. Was die Antwort auf die zweite Frage angeht, ist es für eine Beurteilung wahrscheinlich noch zu früh.
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Das „Geneva Graduate Institute“ ist eine Hochburg pro-palästinensischer Indoktrination und Agitation. Dort ist zum Beispiel das „Decolonial Action Network“ vertreten. Doktoranden aus einschlägigen Regionen spielen bei der Indoktrination eine wichtige Rolle. Unter anderem wird das Massaker in Israel gegen Zivilisten vom 7. Oktober 2023, als „Widerstand“ eingeordnet.