Die Grauzone zwischen Terror und psychischer Erkrankung
Warum ich eine Messerattacke in Rotterdam (noch) nicht als terroristisch einstufe
Am Abend des 19. Septembers verübte der 22-jährige Ayoub M. in Rotterdam eine Messerattacke. Dabei tötete er eine Person und verletzte eine weitere Person schwer. Während der Tat rief er nach Angaben von Zeugen „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“), weshalb Polizei und Staatsanwaltschaft ein terroristisches Motiv vermuteten. Auf X (vormals Twitter) und anderen sozialen Medien war sofort von einem Terroranschlag die Rede.
Ich habe die Situation aufmerksam verfolgt und mich zunächst entschieden, den Vorfall nicht in meinen Datensatz dschihadistischer Anschläge aufzunehmen. Der Grund dafür ist, dass mir das Rufen von „Allahu Akbar“ als Beweis für eine dschihadistische Tatmotivation nicht ausreicht.
Mittlerweile hat sich bestätigt: Der Fall Ayoub M. befindet sich in einer Art Grauzone zwischen Terrorismus und psychischer Erkrankung.
So berichtet die Rotterdamer Zeitung Algemeen Dagblad:
M. hatte [vor zwei Jahren] auf seine eigene Mutter eingestochen, nachdem ihn „Stimmen“ dazu zwangen. Experten stellten fest, dass M. damals psychotisch war, an Wahnvorstellungen und Halluzinationen litt. Sie sahen Anzeichen von Schizophrenie. Der Richter erklärte M. in mehreren Fällen für schuldunfähig, woraufhin er eine therapeutische Maßnahme mit Auflagen erhielt.
Im aktuellen Verfahren hat die Staatsanwaltschaft zwar anscheinend weitere Hinweise auf eine islamistische Motivation entdeckt. Doch entscheidend ist in letzter Konsequenz die Beurteilung von Ayoubs psychischer Verfassung. So sieht das auch mein Kollege, der Terrorismusforscher Jelle van Buren von der Universität Leiden:
Am wichtigsten wird das Urteil der Psychiater sein. Handelte er in einer Psychose? Hatte er Wahnvorstellungen? War er schuldfähig oder nicht? Wenn die Tat in einer Psychose geschah, kann man nicht sagen, dass ein terroristisches Motiv sein Antrieb war.
Die Fragen, die van Buren stellt, sind natürlich nicht neu.
Forscher beobachten seit mehr als einem Jahrzehnt einen starken Anstieg psychischer Erkrankungen bei scheinbar terroristischen Attentätern. Dies wird häufig in Zusammenhang mit dem Anstieg von Einzeltätern und der Radikalisierung im Internet gebracht.
So stellten meine Kollegen Emily Corner und Paul Gill bereits 2015 fest:
Terroristische Motivation und psychiche Erkrankung schließen sich nicht gegenseitig aus.
Terroristische Einzeltäter weisen mehr als dreizehn Mal (!) so häufig eine psychische Erkrankung auf wie solche, die Teil einer Gruppe sind.
Rechtsextremistisch und islamistisch motivierte Einzeltäter sind hiervon gleichermaßen betroffen.
Beispiele, die in dieses Muster passen, gibt es auch in Deutschland:
Im Juni 2021 tötete der Somalier Abdirahman Jibril A., in Würzburg drei Frauen. Auch hier kam es nach Angaben von Zeugen zu „Allahu Akbar“-Rufen, doch die Polizei fand keine weiteren Belege für eine islamistische Motivation. Wie sich herausstellte, war Abidrahman immer wieder psychisch auffällig geworden und seine Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung mehrfach angewiesen, aber nicht umgesetzt worden. Das Landgericht Würzburg kam zu dem Schluss, dass Abdirahman schuldunfähig sei.
Im Feruar 2020 ermordete Tobias Rathjen in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund sowie seine Mutter und tötete sich anschließend selbst. Das zwanzigseitige Manifest, das er kurz vor seiner Tat veröffentlichte, zeigt deutlich, dass Rathjen ein rechtsextremistisches und rassistisches Weltbild hatte. Gleichzeitig finden sich in dem Dokument jedoch zahlreiche Hinweise auf eine schwere psychotische Erkrankung — nach Angaben der Psychiaterin Nahla Saimeh „wahrscheinlich eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie mit sehr bizarren Wahninhalten“.
Die öffentliche Reaktion auf solche Attentate verdeutlicht, wie schwierig der Umgang mit ihnen ist:
Einerseits werden solche Fälle sehr schnell politisiert. Jeder hat sofort eine Meinung und wirft der anderen Seite vor, Probleme entweder „vertuschen“ oder „aufbauschen“ zu wollen.
Gleichzeitig dauert es meist viel länger als in konventionellen Terrorverfahren, bis eine abschließende Beurteilung vorliegt.
Wie der Prozess gegen den Rechtsterroristen Anders Breivik zeigt, kann es dabei unterschiedlichen Bewertungen geben.
Und in einigen Fällen — wie etwa Hanau — kommt es niemals zu einer gerichtlichen Klärung, weil der Täter tot ist.
Ich bin jedenfalls gespannt, zu welchem Urteil die Gutachter im Fall Ayoub M. gelangen.
Schon jetzt ist jedoch klar:
Es wird nicht der letzte Fall dieser Art sein. Und damit wird uns auch die „Grauzone” zwischen Terrorismus und psychischer Erkrankung weiter beschäftigen.
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