Ein Jahr nach der Terroroffensive der Hamas am 7. Oktober zeigt sich deutlich: Europa steht vor einer neuen Welle dschihadistischen Terrors. Im Vergleich zu 2022 hat sich die Zahl der geplanten und durchgeführten Anschläge in den letzten zwölf Monaten mehr als verfünffacht.
Meine Einschätzung: Nach einer Phase relativer Ruhe stellt der Dschihadismus jetzt wieder die größte Terrorismus-Bedrohung für Europa dar. Um eine weitere Eskalation zu verhindern, müssen Politik und Sicherheitsbehörden die Bekämpfung dieser Terrorgefahr sofort zur obersten Priorität machen.
Bevor ich die Situation genauer einordne, zuerst ein paar Worte zu den Daten:
Die oben abgebildete Tabelle zeigt alle geplanten und durchgeführten salafistisch-dschihadistischen Terroranschläge in Westeuropa vom 7. Oktober 2023 bis zum 5. Oktober 2024.
Westeuropa im Sinne der Erhebung umfasst alle Staaten, die vor 2004 Mitglieder der Europäischen Union waren (einschließlich Großbritannien), sowie die Schweiz und Norwegen.
Salafistisch-dschihadistisch sind alle Anschläge oder geplanten Anschläge, die durch Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat (IS) oder al-Qaeda motiviert wurden oder mit ihnen in Verbindung gebracht werden können. Nicht abgebildet sind Terroranschläge der Hamas, der Hisbollah oder des Iran.
Alle Daten stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen (z.B. Statements der Polizei oder von Staatsanwaltschaften sowie glaubwürdigen Medienberichten) und wurden mehrfach bestätigt.
Neben den durchgeführten Anschlägen wurden nur solche Vorfälle berücksichtigt, bei denen die Berichterstattung darauf schließen lässt, dass tatsächlich eine Anschlagsplanung stattgefunden hat, das heißt, dass konkrete Ziele diskutiert oder operative Vorbereitungen — wie etwa das Auskundschaften von Ziele oder die Beschaffung von Waffen — getroffen wurden.
Durchgeführt wurde die Erhebung von meinem Forschungsassistenten Alfirraz Scheers und mir. Mehr Details zu Recherche und Methodik sowie Quellennachweise gibt es in meinem neuen Buch Die Rückkehr des Terrors.
Was genau zeigen diese Zahlen?
Sechs Erkenntnisse sind mir besonders wichtig:
1. Die Zahl der dschihadistischen Anschläge und Anschlagsplanungen ist in den letzten zwölf Monaten stark angestiegen. Im Jahr 2022 zählte Europol in ganz Europa nur zwei durchgeführte und vier versuchte Anschläge. Verglichen damit hat sich das Volumen dschihadistischer Aktivität seit dem 7. Oktober 2023 um mehr als das Fünffache erhöht.
2. Die gute Nachricht: Mindestens zwei von drei geplanten Anschlägen werden verhindert. Den elf durchgeführten Anschlägen stehen fünfundzwanzig Anschlagsplanungen gegenüber, die die Polizei und Sicherheitsbehörden rechtzeitig stoppen konnten. Es stimmt also nicht, dass „diese Art von Terrorismus“ nicht zu verhindern sei. Natürlich gibt es keine hundertprozentige Sicherheit, aber die Trefferquote der Sicherheitsbehörden ist hoch und kann weiter gesteigert werden.
3. Jüdisches Leben steht stark im Fokus. Mehr als ein Drittel der Anschläge und Anschlagsplanungen (36 Prozent) richteten sich ganz oder teilweise gegen Juden, jüdische Institutionen oder Israel. Angesichts der Nachrichtenlage und der Ideologie der Dschihadisten mag dies keine Überraschung sein. Aber es ist eine Erinnerung daran, dass jüdisches Leben in Europa besonderen Schutz benötigt.
4. Deutschsprachige Länder sind überproportional stark betroffen. Deutschland ist mit dreizehn Anschlägen und Anschlagsplanungen das am häufigsten betroffene Land — auch im Vergleich zur Einwohnerzahl (36 Prozent der Anschläge und Anschlagsplanungen vs. 21 Prozent der westeuropäischen Bevölkerung). Ähnliches gilt für Österreich (11 Prozent der Anschläge und Anschlagsplanungen vs. 2 Prozent der Bevölkerung) und die Schweiz (8,5 Prozent der Anschläge und Anschlagsplanungen vs. 2 Prozent der Bevölkerung).
5. Die durchgeführten Anschläge haben bisher nur zu wenigen Todesopfern geführt. In den elf durchgeführten Anschlägen kamen insgesamt neun Menschen zu Tode, also weniger als eine Person pro Anschlag. (Der verheerendste Anschlag war der in Solingen, bei dem es drei Todesopfer gab.) Dies ist für den Anfang einer Terrorwelle nicht außergewöhnlich: Basierend auf vergangenen Terrorwellen passieren die größten Anschläge erst zwei oder drei Jahre nach Beginn der Welle.
6. Die aktuelle Welle ist eine Messerwelle. Zehn der elf bisher durchgeführten Anschläge wurden mit Messern durchgeführt. Bis auf den Anschlag auf das israelische Generalkonsulat in München, bei dem eine Langwaffe verwendet wurde, kamen Schusswaffen überhaupt nicht zum Einsatz. Auch Sprengsätze und Anschläge mit Fahrzeugen, wie etwa in Nizza oder dem Berliner Breitscheidplatz, sind bisher ausgeblieben.
Was folgt aus diesen Erkenntnissen?
Aus meiner Sicht gibt es fünf konkrete Konsequenzen:
1. Wie anfangs erwähnt: Der Dschihadismus ist wieder die größte Terrorbedrohung in Europa. Politiker und Sicherheitsbehörden müssen seine Bekämpfung priorisieren.
2. Mein Buch zeigt, dass speziell sehr junge und im Internet radikalisierte Personen für den Dschihadismus ansprechbar sind. Auf diese Zielgruppe müssen sich Prävention, Frühwarnsysteme, Beobachtung und Repression besonders konzentrieren.
3. In Deutschland ist der Bereich Asyl und Flucht überproportional stark betroffen: Von 45 dschihadistischen Terroristen in den letzten acht Jahren waren 40 Asylbewerber oder Flüchtlinge. Es ist klar, dass sich hierauf mehr Aufmerksamkeit richten muss — und dass Asylverfahren viel stärker reguliert und geordnet werden sollten.
4. Europäische Juden sind aktuell stärker von Dschihadisten bedroht als je zuvor. Sie müssen besonders geschützt werden — nicht zuletzt, weil sich hieran beweist, ob Europa in der Lage ist, seinem pluralistischen Ideal gerecht zu werden.
5. Es ist noch nicht zu spät. Terroristische Wellen erreichen typischerweise nach zwei oder drei Jahren ihren Höhepunkt. Und es gibt keinen Grund, weshalb diese Welle so verheerend sein muss wie die letzte. Der Punkt ist: Wir müssen jetzt handeln, um Schlimmeres zu verhindern!
Mehr zu diesen Entwicklungen gibt es in meinem neuen Buch Die Rückkehr des Terrors, was vor wenigen Wochen bei Rowohlt Berlin erschienen ist:
Wer sich für alle Aspekte von Terrorismus und Terrorismusbekämpfung interessiert, ist bei Der Terrorlage jederzeit willkommen. Ich würde mich freuen, wenn Sie Teil meiner Community werden:
Alle Abonnenten erhalten per Email einen wöchentlichen Rundbrief mit aktuellen Analysen und Einschätzungen. Wer sich entscheidet, die Arbeit meines Teams mit einem monatlichen Betrag zu unterstützen, bekommt zusätzliche Posts, Analysen, Interviews und Hintergundinfos, die ich zusammen mit meinem Mitstreiter Dr. Aymenn al-Tamimi exklusiv für diesen Substack erstelle.