Ein neues Drehbuch für rechtsextreme Proteste
Wie die Ausschreitungen in Großbritannien funktionieren -- und warum das auch für uns ein Problem ist
Die Ausschreitungen, die Großbritannien seit einer Woche erlebt, haben eine neue Qualität. Ihr Auslöser war die Ermordung von drei Kindern durch einen 17-jährigen Briten, dessen Eltern aus Ruanda stammen. Noch am selben Tag entstanden erste, teils gewalttätigen Proteste, die sich in den darauffolgenden Tagen im ganzen Land ausbreiteten. Am Wochenende fanden Demonstrationen in über dreißig britischen Städten statt — vielerorts mit Angriffen auf die Polizei.
Meine Einschätzung: Hier entsteht momentan ein neues „Drehbuch” für rechtsextreme Proteste. Die Faktoren, die sie ermöglicht haben, lassen sich sehr leicht auch auf andere Gesellschaften übertragen. Wir sollten genau beobachten, was in Großbritannien passiert.
Die neue Qualität dieser Proteste hat nichts mit ihrer Größe zu tun. Und auch ihre Themen — Migration und vermeintliche Überfremdung — sind im Prinzip nicht neu. Das Neue ist die Art und Weise, wie diese Bewegung zustande gekommen ist und sich organisiert. Mein Kollege Joe Mulhall, der für die Denkfabrik Hope not Hate arbeitet, spricht bereits von einer „post-organisatorischen“ Bewegung.
Doch was bedeutet das in der Praxis?
Basierend auf ersten Beobachtungen von mir und meinen Kollegen sind für das Funktionieren dieser Protestbewegung sechs Faktoren verantwortlich: Drei davon beziehen sich auf die Bewegung; drei weitere beschreiben den „Nährboden“, der sie möglich macht.
Zuerst die Faktoren, die die Bewegung charakterisieren:
1. Die wahrscheinlich wichtigste Rolle spielen Online-Influencer. Dabei geht es um Personen wie den mehrfach vorbestraften Ex-Hooligan Tommy Robinson oder den Schauspieler und rechten Aktivisten Laurence Fox, die über hunderttausende Follower verfügen und als inoffizielle Anführer der Bewegung agieren. Sie sind keine Anführer im formalen Sinne, aber sie geben der Bewegung eine politisch-ideologische Richtung, verbreiten Videoclips und motivieren Anhänger dazu, eigene Proteste zu organisieren.
2. Ein zweiter Faktor sind „Content Creators“, also Leute, die Videos erstellen und sie online verbreiten. Dazu gehören Personen, die selbst an Protesten teilnehmen und Konfrontationen mit der Polizei oder Gegendemonstranten filmen sowie selbsternannte „Migrantenjäger“, die vermeintlich illegale Ausländer aufspüren oder bei angeblichen Verbrechen ertappen. Im weiteren Sinne zählen hierzu außerdem Aktivisten, die aus dem Rohmaterial virale Clips erstellen und Accounts wie @EuropeInvasionn, die sie weiter verbreiten.
3. Entscheidend sind letztlich lokale Netzwerke, die die Proteste auf die Beine stellen. Hierbei sind vor allem zwei Entwicklungen neu: erstens, dass rechtsextreme Gruppen, die in den letzten Jahren untereinander gespalten waren, an einem Strang ziehen; und zweitens, dass die Mobilisierung weit über die „üblichen Verdächtigen“ hinaus geht. Unter den Organisatoren lokaler Demos finden sich zahlreiche Fußballfans und gewöhnliche Bürger, die in der Vergangenheit nichts mit Rechtsextremismus zu tun hatten. Prominent sind auch Netzwerke von Verschwörungstheoretikern und Lockdown-Gegnern, die während der Corona-Pandemie aktiv waren. Bemerkenswert ist nach Expertenmeinung außerdem die hohe Beteiligung von Frauen und älteren Menschen.
Und was sind die drei Faktoren, die den „Nährboden“ ausmachen?
4. Der wichtigste „Enabler“ sind zweifellos die sozialen Medien. Besonders die Plattformen TikTok, Telegram und X (vormals Twitter) spielen dabei die größte Rolle. Im Falle von X ist das offenbar gewollt. Seitdem Elon Musk das Sagen hat, sind Rechtsextreme massenweise auf die Plattform zurückgekehrt, und Desinformation wird — wenn überhaupt — nur noch sporadisch bekämpft. Musk hat Tommy Robinson nicht nur nach jahrelanger Sperre erlaubt, die Plattform wieder zu nutzen, sondern in einem seiner Posts sogar ausdrücklich gelobt.
5. Ein weiteres Element: die stillschweigende Unterstützung durch den rechten Rand des Establishments. Dazu gehören nicht nur Nigel Farage und seine rechtspopulistische Reform-Partei, sondern auch zahlreiche Kommentatoren und der rechte Flügel der Konservativen Partei, die nach der Wahlniederlage in der Opposition ist und offenbar keine Hemmungen mehr hat, die Regierung anzugreifen. Eine Brandmauer gegen Rechtsaußen, wie in Deutschland, gibt es in Großbritannien nicht.
6. Ein letzter Faktor ist möglicherweise Russland. Noch am Tag der Morde tweetete der Account eines fiktiven Fernsehkanals, dass der Täter ein unter Terrorismusverdacht stehender Asylbewerber gewesen sei. Die Falschmeldung verbreitete sich innerhalb weniger Stunden fünf Millionen Mal. Zwei Tage später stellte sich heraus, dass der Account in Russland registriert wurde und bereits während der Pandemie Desinformation verbreitet hatte
Kurzum: Was sich seit einer Woche in Großbritannien abspielt, ist in vielerlei Hinsicht neu und sollte überall in Europa genau beobachtet werden. Denn im Prinzip lassen sich die sechs Faktoren, die ich identifzieren habe, in allen westlichen Demokratien aktivieren.
Mehr noch: Aus ihnen könnte eine Art „Drehbuch“ entstehen, mit dem die extreme Rechte auch in anderen Ländern soziale Unruhen mobilisiert. Weder Sicherheitsbehörden noch Zivilgesellschaft haben hierauf bisher eine adäquate Antwort. Und gerade mit den sozialen Medien tun sich viele Extremismusbekämpfer nach wie vor schwer.
Meine Meinung: Statt darüber zu streiten, was die größte extremistische Gefahr ist, brauchen wir dringend eine Strategie, die beide strategische Gefahren für die liberale Demokratie — Islamismus und Rechtsextremismus — gleichermaßen ernst nimmt und bekämpft. Vor allem: Wir müssen handeln, bevor es die Extremisten tun.
Mehr zum Thema Rechtsextremismus und seinen Wurzeln gibt es unter anderem in meinem vielgelobten Buch Die Logik der Angst. Wenn Sie diesen Post interessant fanden, würde ich mich außerdem freuen, wenn Sie Teil meiner Community werden:
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Der Traum der Liberalen ist es sich als große politische Alternative zu "Islamismus und Rechtsextremismus" darzustellen. Aber das sind sie leider nicht. Das was sie als Liberale machen ist den Linksextremismus als stillen Teilhaber zu etablieren, der die politische Alternative wieder zum Teil des Konflikts macht. Wer nach einem halben Jahrhundert linker kultureller Hegemonie davon schwurbelt, dass der "Rechtsextremismus" eine politische Gefahr sei, noch dazu eine, die mit dem Islamismus auf gleicher Augenhöhe zu stehen hat, macht hier Geschäfte mit dem stalinistischen Erbe, das - anders als der Rechtsextremismus - seine Finger in allen wichtigen Institutionen hat. Die Akademien, Thinktanks und liberalen Medien, die von "Rechtsextremismus und Islamismus" reden sind zu kommunistischen Propaganda Verstärkern geworden, weil ihr Fokus auf das Feindbild "rechts" dafür sorgt, dass "rechts" und "rechtsextrem" nicht nur dasselbe sind, sondern "rechts" in dieser Bubble bedeutet, außerhalb der sozial akzeptierten Norm zu stehen. Das ist ihnen zumindest gut gelungen.
Das Selbstbild dieser liberalen Mitte ist falsch. Sie ist weder liberal noch Mitte, sondern versucht zu verschweigen, dass sie eigentlich das Geschäft der stalinistischen Kaderpolitik betreibt, die alle Strömungen des modernen Linksextremismus so erfolgreich vereinigt hat.
Um es ganz kurz zu sagen: Damit der Rechtsextremismus so prominent werden kann, ist es notwendig, dass die Jahrzehnte lange Herrschaft der Linken sich als potenzielles Opfer einer immer unmittelbar bevorstehenden nationalsozialistischen Machtübernahme inszenieren kann. Diese intellektuelle Meisterleistung ist dann die Grundlage dafür, sich als Politikberater zu positionieren, der dem Staat den Vorwand liefert, die zu überwachen, die der linken Hegemonie unangenehm sind. Well done.